Die Reifen des alten Kombis knirschten auf der vereisten Einfahrt. Das Licht des Mondes erhellte den Schnee und warf das Haus von Oma Trude in ein kaltes Blau. Eingerahmt von kahlen Ästen, die sich wie knorrige Finger in die Luft reckten, war eines der Fenster im ersten Stock hell erleuchtet.
„Ist das Oma? Hallo Oma!”, schrie Emma und winkte von der Rückbank aufgeregt nach oben – Oma Trude reagierte nicht. „Menno, Papa hup’ mal!”, forderte Emma.
„Es müssen ja nicht direkt alle Leute hier mitbekommen, dass wir da sind, Emma”, erwiderte ihr Vater als der Wagen zum Stehen kam, „Wir laden nun erstmal das Auto aus und dann Essen wir in Ruhe etwas. Die Fahrt war lang.“
„Vorsichtig, Kinder! Es ist glatt!”, mahnte ihre Mutter als sie zusammen mit ihrem Mann die ersten Kisten aus dem Kofferraum zog. Emmas Bruder rannte an ihr vorbei Richtung Klingel. Noch bevor er sie erreichte, öffnete eine dürre, ältere Dame mit zu einem Dutt zusammengeknoteten Haaren die Tür. Sie hielt sich am Türrahmen fest und blickte die Kinder erwartungsvoll an.
„Oma! Wir sind da! Haben Geschenke dabei!”, verkündet Paul stolz.
Auf den Lippen von Trude zeichnete sich ein Lächeln ab. Ihre Stimme klang rau: „Paulchen und Emma. Kommt rein, ihr müsst ja halb erfroren sein.“
Drinnen roch Emma Holzrauch und etwas Süßliches, was Emma nicht kannte. Während die Eltern draußen blieben, um das Auto auszuladen, nahm die Großmutter die Kinder an die Hand und führte sie ins Wohnzimmer. Das Feuer im Kamin brannte hell, und die alten Möbel warfen lange Schatten an die Wände.
„Setzt euch“, sagte die Großmutter und deutete auf das Sofa; auf dem Tisch waren Lebkuchen und zwei Gläser Milch bereitgestellt. „Hier könnt ihr euch ein wenig aufwärmen. Ich gehe mal Mama und Papa helfen.“
Die beiden Kinder nahmen Platz und fielen über die Lebkuchen her.
„Paul?“, fragte Emma.
„Ja? Waff denn?“, erwiderte ihr Bruder mit vollem Mund.
„Oma ist voll dünn geworden und guckt voll streng“, sagte Emma, „freut sich gar nicht richtig.“
Der fast fünf Jahre ältere Paul stupste seine dreijährige Schwester an: „Oma ist auch alt; deswegen kommen wir ja hierhin dieses Jahr und Oma nicht zu uns. Ist zu weit für sie der Weg.“
Emma wirkte nachdenklich. Ihr Bruder unternahm einen Versuch, sie abzulenken: „Hier sind bestimmt auch schon Geschenke, Emma. Lass mal suchen, okay?”
Gesagt – getan. Die beiden Kinder widmeten sich den Kommoden und Regalen des urigen Wohnzimmers.
Nach einigen Minuten war von draußen ein Rumpeln zu hören und Emma und ihr Bruder schreckten auf. „Ich gucke mal”, sagte Paul und ging zur Tür.
Bevor er sie öffnen konnte, betrat Trude mit zwei Koffern in den Armen das Wohnzimmer und stellte sie ab. „Ihr habt eine Menge Sachen dabei”, sagte sie, „Mama und Papa sind gleich soweit. Sie sind die ganze Zeit gefahren – die ruhen sich noch ein wenig aus. Aber ich habe eine Geschichte für euch, bis wir alle fertig sind.”
„Bestimmt verstecken sie die Geschenke”, flüsterte Paul seiner Schwester aufgeregt ins Ohr. Doch Emma war unwohl, ihre Oma hatte von draußen ein paar kalte Windstöße mitgebracht. Das Feuer knisterte und flackerte im Luftzug.
„Was ist los, mein Kind? Kommt zu mir, dann wird euch wieder warm”, sagte Trude und setzte sich auf ihren großen Sessel. Paul eilte herbei und lehnte sich gegen die Beine seiner Oma. Emma setzte sich neben ihren Bruder, und die Großmutter begann.
„Es war vor vielen Jahren“, begann sie. „Ich war noch klein, so wie ihr jetzt, und ich bin mit meiner Mama hier ins Dorf gezogen. Meine Mama kannte hier ein paar Leute, aber für mich war das komplett neu. Und die anderen Kinder waren… seltsam. Ich fand sie seltsam.“
Emma und Paul schauten sich an. Paul flüsterte: „Was war mit den Kindern?“
Die Großmutter hielt inne, bevor sie weitersprach. „Sie starrten mich an, aus Fenstern und von den Straßen, aber sie sagten nichts und grüßten nicht. Kein Lachen, kein Spielen im Schnee. Sie waren einfach nur… da. Wie Puppen. Ich war ja neu und wollte eigentlich neue Freunde finden.“
Paul rutschte unruhig hin und her. „Und was hast du gemacht, Oma?“
„Ich hätte gehen sollen“, sagte sie leise zu sich selbst, ihre Augen auf die flackernden Flammen gerichtet. „Aber ich blieb. Und am zweiten Abend… hörte ich es.“
„Was?“ flüsterte Emma. Sie griff nach Pauls Hand.
„Das Summen“, die Großmutter schaute die Kinder an, und in ihren Augen spiegelte sich das Feuer. „Es war kaum wahrnehmbar, aber es war da. Erst dachte ich, es wäre der Wind, aber es war anders. Lebendig. Es rief mich.“
Emma zitterte und zog eine Decke um sich. „Ich hab’ Angst!“
„Das ist nur eine Geschichte, Emma, du bist doch schon groß”, beruhigte Paul seine kleine Schwester. „Was hast du dann gemacht, Oma?”
„Ich folgte ihm“, sagte die Großmutter mit einem Hauch von Bedauern, „Ich ging hinaus in die Nacht, vorbei an den stillen Straßen und den geschlossenen Fensterläden. Die Geräusche kamen aus dem Wald. Und schließlich sah ich sie auch.“
„Wen?“ Pauls Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Die Kinder“, sagte die Großmutter. „Sie standen auf einer Lichtung, sie hielten sich an den Händen und standen im Kreis und sangen.”
„Oh, ein Weihnachtslied!”, platzte es aus Emma heraus.
Ihre Großmutter schüttelte leicht den Kopf: „Nein, mein Schatz. Sie sangen, aber die Worte waren nicht, nicht… richtig. Und in ihrer Mitte lag ein Schneeengel.“
„Ein Schneeengel?“, Emmas Anspannung ließ etwas nach – ein Schneeengel, das kannte sie.
Die Großmutter nickte langsam. „Aber kein normaler Schneeengel. Er war richtig schön und glänzend. Und dann… begann er sich zu bewegen!“
Emma und Paul hielten den Atem an, als die Großmutter ihre Geschichte fortsetzte. Ihre Stimme wurde leiser, drängender, als ob sie selbst wieder in jener Nacht auf der Lichtung wäre.
„Es sah aus als würde der Schnee aufstehen. Erst ein Arm, wie ein dünner Ast. Und dann … erhob sich plötzlich alles. Es war wundersam, nicht von dieser Welt. Es war der Winter selbst.“
Die Kinder schauten sie mit großen Augen an, ihre Gesichter bleich. „Was… was ist passiert?“ fragte Paul zögernd.
Die Großmutter lehnte sich vor, und das Licht des Kamins erhellte für einen Moment ihre Züge – scharf und unnatürlich. „Ich rannte“, sagte sie, „Ich rannte so schnell ich konnte, zurück ins Dorf, aber die Türen blieben verschlossen. Obwohl sie mich gesehen hatten. Und die Kinder… die Kinder folgten mir.“
Emma winkelte ihre Beine an, als ob sie sich schützen wollte, und hielt sich ihre Hände an die Ohren.
„Oma, kannst du was anderes erzählen?”, fragte Paul und legte seine Hand um seine Schwester, „Emma, das ist gut ausgegangen, Oma ist doch da.”
Die Großmutter lächelte, aber es war ein kaltes Lächeln, das Paul frösteln ließ. „Ich bin hier, nicht wahr?“, ihre Stimme hatte einen seltsamen, singenden Unterton, fast wie das Summen aus ihrer Geschichte. „Aber manchmal frage ich mich, ob ich es wirklich bin.“
Es herrschte eine beklemmende Stille im Raum. Emma spürte, wie auch das Herz ihres Bruders schneller schlug. Sie hatte sich mit großen Augen an ihn geklammert. Die alte Frau starrte mit aufgerissenen Augen ins Feuer. Emma sah, wie Tränen das Gesicht ihrer Oma herunterliefen.
„Es tut mir so leid, meine Kleinen. Ich dachte ich würde es schaffen, wenn ihr hier seid”, schnaufte die alte Dame, „Wenn ich bei euch war, ging es doch auch! Ich hätte euch nicht hierhin holen sollen.“
„Wie meinst du das?“ fragte Paul mit zittriger Stimme.
Die Großmutter lächelte, aber es war kein beruhigendes Lächeln. Ihre Gesichtszüge wirkten fremd. Ihre Zähne schienen spitzer als zuvor. Mit wieder fester Stimme sagte sie: „Oh, mein Junge, manche Geschichten sind so alt wie die Zeit. Und manche Engel… bleiben immer bei uns.“
Emma wollte aufstehen, doch plötzlich war da dieses Summen. Es kam von überall – aus den Wänden, vom Kamin, sogar aus dem Holz des alten Bodens unter ihren Füßen. Ihre Beine fühlten sich schwer an, als ob sie in unsichtbare Ketten gelegt worden wären.
Paul versuchte zu schreien, aber kein Laut kam aus seinem Mund. Die Großmutter erhob sich langsam. Ihr Rücken knackte mit einem widerlichen Geräusch, während sie sich aufrichtete, höher als zuvor, ihre schmächtige Gestalt nun grotesk verdreht. Ihre Haut, die zuvor nur faltig und alt wirkte, spannte sich wie ein Pergament über scharfe Knochen, grau und papierdünn, durchzogen von blauschwarzen Adern, die pulsierend wie Schlangen unter der Oberfläche wanden.
„Ihr seid brave Kinder“, sagte sie mit einer Stimme, die jetzt tiefer und kratziger klang. „Ihr werdet Teil von etwas Größerem. Etwas… Ewigem.“
„Nein!“, schrie Emma schließlich und zog ihren Bruder instinktiv weg. Doch bevor sie den Flur erreichen konnten, schloss sich die Tür des Wohnzimmers mit einem ohrenbetäubenden Knall. Das Summen wurde lauter, bohrte sich in ihre Köpfe. Ihre Großmutter machte einen Schritt nach vorne. Ihre Arme waren jetzt dürr und lang wie Äste, und aus ihrem Mund, der sich unnatürlich weit öffnete, kamen kehlige Laute.
Ein widerlicher Gestank von Moder, verbranntem Fleisch und fauligem Wasser breitete sich im Raum aus, ließ Emma würgen, obwohl sie vor Angst kaum atmen konnte.
Paul schrie und in diesem Moment brach das Licht der Kaminflammen zusammen. Emma wollte nach ihrem Bruder greifen, ihn festhalten, aber ihre Finger griffen ins Leere – er war weg.
Dann ein dumpfes Geräusch, das wie nasses Reißen klang. Ein widerliches Schmatzen folgte, und Emma sah sie – die Gestalt, die einst ihre Großmutter gewesen war. Ihr Mund war nun eine unnatürlich große Öffnung, die sich bis weit hinunter zum Hals erstreckte, gesäumt von scharfen, unregelmäßigen Zähnen, die wie Scherben aus dem rohen, blutigen Fleisch ragten.
Die Kreatur warf den Kopf in den Nacken und stieß ein unmenschliches Kreischen aus, als sie Pauls Oberkörper in ihren Schlund schob. Emma wollte schreien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie konnte nur zusehen, wie Pauls Beine zuerst strampelten und dann schlaff wurden, während das schmatzende Geräusch sie fast in die Knie zwang. Die Haut ihrer Großmutter pulsierte, dehnte sich grotesk, als Pauls Körper vollständig verschwand. Schwarze Tropfen liefen aus den Mundwinkeln und zischten, als sie den Boden berührten.
„Mama!”, schrie Emma, riß die Tür auf und rannte aus dem Zimmer. „Papa! Mama! Oma hat Paul gegessen!”, Emma kreischte als sie ausrutschte und auf den Flurboden fiel. Der Teppich war bedeckt von Schnee und in ihm die Abdrücke zweier großer Schneeengel. Direkt vor ihr lag die Brille ihres Vaters. Und die Jacke ihrer Mutter!
„Mam-”, dann stülpte sich etwas von hinten über Emma. Es wurde schwarz um sie und es gab es nur noch ein flüsterndes Summen in der eisigen Luft, welche einzelne Schneeflocken gegen die Fensterscheiben des Hauses wehte.
Der Winter ist hier.