Dies ist ein Teil einer Fortsetzungsgeschichte in der Welt von Violet Fate. Hier geht es zum ersten Teil.
Er wusste nicht, welcher Tag es war. Er hatte vor einiger Zeit aufgehört seinen Schlaf zu zählen und jegliches Zeitgefühl verloren. Er wartete darauf, zu sterben. Wenn ihn das Verlangen nach Viol vorher nicht von Innen aufgefressen hatte, so würde er vor Hunger und Durst irgendwann einfach nicht mehr aufwachen.
Er hatte seine Hände hinter seinem Rücken verschränkt und starrte aus seiner gläsernen Zelle. Dünne Röhren durchzogen das dicke Glas; darin befand sich Viol, das konnte er spüren. Es bahnte sich den Weg durch die rostigen Leitungen und verlieh dem Glas eine magische Stärke. Und es quälte ihn: Nur ein kleiner Tropfen dieser hochkonzentrierten Flüssigkeit auf seiner Zunge und er könnte das alles hier viel besser ertragen. Kalter Schweiß lief ihm bei dem Gedanken an diesen knisternden, köstlichen Nektar über die vernarbte Haut. Seine Knöchel schmerzten und er erinnerte sich an seinen letzten Versuch, das Glas einzuschlagen, um den Rohren näher zu sein. Er hatte seine Contenance verloren, mehr als einmal. War Passagier seiner Sucht geworden. Er war nicht stolz darauf.
Dabei war die Erlösung so nahe: Die Waffen der herumstehenden Wachen versprachen ihm ein schnelles Ende – wenn er nur an sie herankommen würde. Aber die Tür öffnete sich nie. Und das kleine eingelassene Fenster war nicht groß genug, um einen Versuch zu starten. Und bis auf einen Eimer zum Erleichtern und eine dünne, viel zu kleine Decke hatten seine Gastgeber ihm keine Möglichkeiten gegeben, sich vorzeitig ein Ende zu setzen.
Von außerhalb der Zelle spürte er die Maschinen vibrieren. Ein leichtes Wummern in der Ferne; entweichende Druckluft und zischende Ventile. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich kurz einreden noch ein kleiner Junge in Dammstadt zu sein. Unterwegs in den Gassen der unteren Ebenen, immer auf der Suche nach der nächsten Mahlzeit. Im Vergleich zu dem, was er in den letzten Jahren in der Akademie und am Wirrniswall durchlebt hatte, war seine Kindheit eine Wohltat gewesen.
Doch die Vorstellung hielt nur so lange, bis er wieder seine Augen öffnete. Dann sah er wieder hörige Marionetten, in dunklen Stahl gehüllt, der von dünnen, violetten Adern durchzogen wurde. Darüber weiße Mäntel und die Embleme des Iyobetischen Königshauses. Er verzog verächtlich den Mund bei ihrem Anblick.
“Darf ich näherkommen, Arnon Dostel?”, hörte er eine Stimme in seinem Kopf.
Arnon blieb ganz ruhig; mit solchen Tricks würden sie ihn nicht aus der Reserve locken und sich an seinem Erschrecken laben. Er sagte nichts und blickte stattdessen weiter geradeaus aus seiner gläsernen Zelle. Ein ekelhafter Gestank der Verwesung drang ihm in die Nase.
Die Stimme war nun neben ihm, direkt vor seiner Zelle: “Heute wohl nicht so gesprächig was? Na, wer will es dir verübeln.”
Dann schließlich drehte er sich in Richtung des Gestanks und der Stimme und spürte Ekel in sich aufsteigen. Dieser ließ ihm das Verlangen nach Viol und jeden Hunger kurzzeitig vergessen. Die Person vor ihm war in ein graues Gewand gekleidet und trug eine Kapuze, die sein Gesicht verdeckte. Oder besser gesagt das, was sich dort einst befunden hatte – das wusste Arnon nur zu gut. Hochrangige Vertreter der Violetten Akademie verloren irgendwann die Kontrolle über ihr physisches Dasein. Sie wurden ihres eigenen Körpers enteignet. Ihr Fleisch fiel ihnen regelrecht von den Knochen; violetter Nebel nahm seinen Platz ein, formte Stück für Stück ihren Körper, der langsam verrottete und auseinanderfiel.
“Ich bin Dirothos von Königsstrom”, begann der Enteignete zu sprechen, “Das Königshaus hat mich mit der Untersuchung der jüngsten Ereignisse beauftragt. Darf ich eintreten?”
Nun blickte Arnon seinem Besucher zum ersten Mal in die Dunkelheit seiner Kapuze. Was wollte er? Warum wollte er zu ihm in die Zelle? Wenn er es nur clever genug anstellte, dann konnte er viell… nein, er war zu geschwächt und selbst im Vollbesitz seiner Kräfte würde er niemals den Magier und die umstehenden Wachen überwältigen können. Nichtmal, um sich selbst zu richten. Und töten würden sie ihn nicht, noch nicht. “Als ob sie darauf Rücksicht nehmen würden”, erwiderte Arnon und trat einen Schritt zurück. “Was wollt ihr, Ungeheuer?”
“Wie ich dir bereits sagte”, sagte Dirothos als er eintrat, “bin ich mit der Untersuchung deiner… durchaus interessanten Geschichte beauftragt.”
“Das glaubt aber auch nur ihr; warum sollte das irgendjemanden interessieren? Die Sache ist klar – hört auf mit mir zu spielen und bringt es zu Ende”, sagte Arnon.
“Wieso sollte ich spielen, Attentäter? Wenn ich oder meine Herrin zu spielen beliebte, dann würde man deine Schreie von hier bis auf die Schlotinseln hören”, erwiderte der Enteignete, nachdem er die Zellentür hinter sich geschlossen hatte.
Seine Herrin? Arnon war verwirrt: “Herrin? Wer soll das sein? Haben sie nun die kleine Prinzessin Iota zur Herrscherin ernannt? Kann sie überhaupt schon reden?”
Ein leises Lachen schallte von den gläsernen Wänden seiner Zelle zurück. “Ich bin zwar sehr wohl vom Königshaus mit dieser Befragung betraut”, der Magier legte eine kurze Pause ein, “jedoch bin ich in erster Linie der Akademie verpflichtet. So wie du einst.” Während der letzten vier Worte glaubte Arnon das verunstaltete Gesicht seines Gegenübers unter der Kapuze kurz aufleuchten zu sehen. “Und die hochgelehrte Maga interessiert sich sehr für die Geschichten, die man sich über dich und deinesgleichen erzählt.”
Arnon wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Damit hatte er nicht gerechnet. Ganz tief in ihm begann ein kleiner Funken Hoffnung seinen Todeswunsch zu verdrängen.
Der Enteignete zog eine metallene Pfeife aus seinem Umhang, gefolgt von einem kleinen Reagenzglas mit violett schimmernden Kräutern. Arnon bemerkte nicht, wie er einen Satz nach vorne machte. Er realisierte es erst, als er mit nur einer Handbewegung des Enteigneten den Boden unter den Füßsen verlor und gegen die Wand hinter ihm gedrückt wurde.
“Nicht so schnell”, sagte Dirothos in einem ernsten Tonfall und warf den Wachen vor dem gläsernen Gefängnis einen entwarnenden Blickt zu. “Wenn mich deine Geschichte überzeugt, kannst du hiervon so viel haben, wie du willst. Dahin, wo wir dann gehen, gibt es noch viel mehr.”
“Was soll das hier alles?!”, schnaubte Arnon und fing an nach Hilfe zu schreien.
“Gib dir keine Mühen, die hören uns nicht. Dafür habe ich gesorgt. Wir wollen doch nicht, dass sie noch ein falsches Bild von mir bekommen.”
Arnon warf einen Blick auf die Wachmänner: Der Enteignete hatte Recht. So laut er auch schrie, sie interessierten sich nicht für ihn. Nach wenigen Minuten gab er auf und auch der Druck, der ihn an die Wand fesselte, ließ nach.
“So, wenn wir das geklärt hätten, könnten wir vielleicht nun endlich starten”, fuhr der Magier fort und füllte den Inhalt des Reagenzglases in die Pfeife. Er führte sie unter seine Kapuze, wo sie kurz darauf violett aufleuchtete und eine ekelhafte, zur Hälfte verfault Fratze offenbarte. Dirothos pustete Arnon den Rauch ins Gesicht: “Lass uns beginnen. Warum musste der Kindskönig sterben?”
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